Sozialethiker Schlagnitweit: Begriff "Leistungsträger" hinterfragen
Leistungsträgerbegriff nicht nur ökonomisch definieren
Den Begriff "Leistungsträger", wie er in der Politik oft gebraucht wird, hält der Sozialethiker Markus Schlagnitweit für "hochproblematisch". Im Interview der Wiener Kirchenzeitung "Der Sonntag" (Ausgabe 28. April) erklärte der Direktor der Katholischen Sozialakademie Österreichs (ksoe), man dürfe "den Leistungsträgerbegriff nicht nur ökonomisch definieren, also fragen: Welche Wertschöpfung erzielt eine Arbeit?" Vielmehr gelte es zu fragen: "Was gibt ein Mensch für das Gemeinsame, für das Zusammenleben, für das Gemeinwohl?" Schlagnitweit erwähnte in diesem Zusammenhang die während der Pandemie beklatschte, aber finanziell unterbewertete Care-Arbeit z.B. der Pflegekräfte und forderte mehr Lohngerechtigkeit ein. Die Corona-Pandemie, als bei den Lockdowns vieles aufrechterhalten werden musste, habe verdeutlicht, "welche Berufe wirklich gesellschaftlich systemrelevant sind", erinnerte der Priester und studierte Sozialwissenschaftler. Da habe man plötzlich eine ganz andere Wahrnehmung für diese Berufe bekommen, "die sich aber bis jetzt in den meisten Fällen nicht in der Bezahlung der Betroffenen niederschlägt, (...) während andere, oft hoch bezahlte Jobs locker von zu Hause aus oder auch am Computer erledigt werden konnten". Schlagnitweit bemängelte, dass Leistungsträger vielfach als jene verstanden würden, die besonders viel Steuern zahlen, weil sie über hohe Einkommen verfügen. "Das ist aber nicht unbedingt gleichbedeutend mit der echten Arbeitsleistung, die dabei erbracht wird", gab er zu bedenken. Denn es gebe viele Menschen, die in Vollzeit arbeiten und trotzdem nur einen Lohn erhalten, der knapp an der Armutsgrenze oder sogar darunter liege. Solche "Working Poor" seien auch in Österreich -teils sogar im Bereich systemrelevanter, aber schlecht bezahlter Berufe - tätig.
Recht auf angemessenen Lohn
"Und ich frage mich: Sind das nicht die eigentlichen Leistungsträger?", so Schlagnitweit. Die Position der Katholischen Soziallehre dazu sei klar: "Wer arbeitet, hat ein Recht auf einen angemessenen Lohn, von dem er oder sie leben kann und auch die Familie oder sonstige Angehörige, für die er oder sie zu sorgen hat." Auf das Erfordernis der Lohngerechtigkeit mache auch Papst Franziskus immer wieder aufmerksam. Auch die Vatikan-Erklärung "Dignitas infinita" ("Die unendliche Würde") setze nicht bei den bürgerlichen Grund- und Freiheitsrechten an, sondern bei den sozialen und wirtschaftlichen Grundrechten und nenne hier Armut oder Migration als Felder, wo die Menschenwürde gefährdet ist, erläuterte der ksoe-Direktor. Franziskus hat auch schon mehrmals für Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen so etwas wie ein Grundeinkommen eingefordert.
In dem Interview anlässlich des baldigen "Tages der Arbeit" am 1. Mai und des "Tages der Arbeitslosen" am 30. April äußerte sich Schlagnitweit auch über Langzeitarbeitslosigkeit. Davon Betroffene seien nicht nur finanzieller Verarmung ausgesetzt, ihr Status habe meistens auch Auswirkungen auf die Psyche: "Langzeitarbeitslose verlernen gleichsam, ihre Tagesstruktur zu behalten und mit einer gewissen Regelmäßigkeit ihren Tag zu gestalten." Der ksoe-Direktor lobte hier das "sehr interessante und auf drei Jahre befristete Experiment" in Gramatneusiedl-Marienthal in Niederösterreich, das allerdings beendet worden sei. Dabei hätten langzeitarbeitslose Menschen auf freiwilliger Basis einen garantierten Job angeboten bekommen, sich wieder an regelmäßige Erwerbsarbeit gewöhnen können und seien damit auch aus der Armut herausgekommen. "Dieses Experiment hat nicht mehr gekostet, als wenn die Betroffenen weiterhin ihre Sozialleistungen bezogen hätten", wies Schlagnitweit hin. Bei der Präsentation des jüngsten Sozialberichts des Sozialministeriums habe sich eine Wissenschaftlerin optimistisch geäußert, dass derartige "Jobgarantie-Modelle" geeignet wären, Langzeitarbeitslosigkeit in Österreich wirksam zu bekämpfen.
Gegen länger geöffnete Geschäfte
Zum jüngsten Vorschlag aus dem Rewe-Konzern, die Ladenschlusszeiten auszuweiten, sagte der Sozialethiker: "Ich halte nicht viel davon." Die ohnedies schon auf 19.30 oder 20 Uhr ausgeweiteten Zeiten seien ausreichend. Zudem sei die Digitalisierung auch im Handel voll eingezogen und virtuelle Einkäufe würde den Präsenzhandel eher weiter eindämmen. Und: "Es geht ja nicht nur um die Interessen der Kundinnen und Kunden, sondern wir haben dann auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die regelmäßig bis 23 Uhr arbeiten müssten", gab Schlagnitweit zu bedenken. Dies würde die für das gesellschaftliche Leben notwendigen Zeitrhythmen noch mehr in Auflösung bringen: Es brauche gemeinsame Freizeiten, die Engagement in den Familien, in Vereinen und im ganzen Bereich des Ehrenamts ermöglichen.